Nach Verletzung zurück in die Zweikämpfe
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Gastautor
Gepostet am 14.4.2023
Nach fast endloser Verletzungspause steht ein lange vermisster Spieler vor seinem Coach und freut sich, wieder dabei zu sein. Endlich hat der Arzt ihm das Mannschaftstraining wieder erlaubt - und mit den Zweikämpfen darf auch wieder langsam begonnen werden. Aber was heißt das konkret? Wie kann der Spieler in einem Kontaktsport wie Fußball langsam wieder an Zweikämpfe herangeführt werden?
Ziel dieses Beitrags ist es nicht, eine wissenschaftlich abgesicherte Studie vorzustellen oder den engen Kontakt mit Ärzten und Therapeuten zu ersetzen. Vielmehr soll Trainern für die Praxis eine konkrete Hilfestellung gegeben werden, wie das im Fußball unabdingbare, aber nach einer Verletzung auch angstbeladene Thema der Zweikampfführung praktisch angegangen werden kann, um den Spieler möglichst strukturiert wieder schrittweise in den Mannschaftsbetrieb zu integrieren. Die folgenden Ausführungen, wie die Rückkehr ins Mannschaftstraining gelingen kann, erfolgen am Beispiel einer Verletzung des vorderen Kreuzbandes.
II. Vor der Rückkehr ins Mannschaftstraining
Bevor ein Spieler ins Mannschaftstraining zurückkehren kann, muss er die Anforderungen hinsichtlich „Zeit“ und „Funktion“ erfüllen.
Grundsätzlich gibt es bei Trainern und in den Medien die Faustregel, dass ein Kreuzbandriss mindestens rund sechs Monate Ausfallzeit nach sich zieht. Studien sollen aber belegen, dass jeder Monat, den man nach Ablauf eines halben Jahres länger bis zur Wettkampfrückkehr[1] wartet, das Risiko einer weiteren Verletzung um 50 Prozent senkt. Ein wesentlicher Faktor, die der Sportler bei aller Ambition und Sehnsucht nach dem Fußball als Wettkampf mitbringen muss, ist also Geduld. Denn „das Hauptrisiko, eine Sportverletzung zu erleiden, ist eine vorausgegangene Sportverletzung[2]“.
In der Zeit, in welcher der Spieler noch nicht ins Mannschaftstraining zurückkehren darf, sollte er neben allgemeinen Reha-Maßnahmen und Aufbautraining so bald als möglich auch fußballspezifische Übungen durchführen, um die fußballspezifische neuromuskuläre Kontrolle und Koordinierung für eine effektive Rückkehr in den Sport wiederzuerlangen. Der Sportler spielt also (zunächst eingeschränkt) Fußball, um wieder Fußball spielen zu können. Hierzu wurden von der Sportwissenschaft Empfehlungen und Programme erarbeitet, die verschiedene Phasen der individuellen Rehabilitation unterscheiden. Die jeweilige Phase, in welcher der Sportler sich befindet, gibt dann die Art verschiedener fußballspezifischer Übungen vor (Phasenprinzip). Diese Phasen knüpfen nicht nur an den bloßen Zeitablauf, sondern auch an den jeweils wiedererlangten funktionalen Fähigkeiten des verletzten Sportlers an. In diesem Rahmen übt der Spieler typische Bewegungsabläufe wie Antritt- und Abstopp- oder auch Drehbewegungen nur mit den typischen Trainingshilfsmitteln (Hütchen, Stangen, Pylonen) und noch ohne Gegner – er führt also noch keine Zweikämpfe, so dass solche Programme nicht im Fokus dieses Beitrags stehen. Nur wenn diese Bewegungsabläufe schmerzfrei und ohne Komplikationen über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden können, ist überhaupt an die Rückkehr ins Mannschaftstraining und den Wiedereinstieg in die Zweikampfführung zu denken.
Sofern der Arzt es nicht bereits von sich aus empfiehlt, sollte darüber hinaus jeder Spieler überlegen, ob er vor der Rückkehr ins Teamtraining (und auch später in den Wettbewerb) zusätzlich sogenannte Return-to-Sport-Tests absolviert. In diesen wird bei einer Kreuzbandverletzung mit verschiedenen Übungen getestet, wie belastbar das Knie inzwischen ist. Das Knie wird u.a. mit diversen ein- und zweibeinigen Sprüngen, die einen Schwerpunkt des Tests bilden, einem Härtetest unterzogen. Neben quantitativen Kriterien, wie der Anzahl der absolvierten Sprünge, wird anhand von Videoaufzeichnungen auch die Qualität der Bewegungen (z.B. Beinachse) geprüft.
III. Methodik bei der Wiederaufnahme des Mannschaftstrainings und der Heranführung an Zweikämpfe
Das oben beschriebene Phasenprinzip, das vor der Wiederaufnahme des Mannschaftstrainings gilt, setzt sich nun auch bei der Wiederaufnahme des Mannschaftstrainings und dem Einstieg in die Zweikampfführung fort: auch jetzt soll der Spieler nacheinander vier verschiedene Phasen (Begleitung des Mannschaftstrainings; eingeschränktes Mannschaftstraining; erweitertes Mannschaftstraining; volles Mannschaftstraining) mit ihren jeweiligen Unterphasen durchlaufen, um sich systematisch wieder an die sportartspezifischen Belastungen anzupassen. Grundgedanke aller Phasen ist die steigende Gewöhnung der geschädigten Strukturen an die fußballspezifischen Bewegungsabläufe (Antritt, Abstoppen, Drehbewegungen, Zweikampfführung) mit einem stetigen Anstieg des körperlichen Kontakts zum Gegner. Darüber hinaus ist auch die sukzessive psychische Gewöhnung von entscheidender Bedeutung.
Die Phasen unterteilen sich wiederum in Übungen ohne Mannschaft (meistens Partnerübungen) und Übungen mit Mannschaft. Das Training mit der Mannschaft wird dabei durch die Partnerübungen begleitet und vorbereitet. Für die Durchführung der Übungen ohne Mannschaft sollte ein Co-Trainer oder – bei Kindern - zumindest ein Elternteil des Spielers zur Verfügung stehen. In den meisten Fällen wird für sie noch ein Mitspieler benötigt, der idealerweise körperlich nicht viel stärker sein sollte als der verletzte Spieler, um zunächst nicht zu starke Kräfte auf den verletzten Spieler einwirken zu lassen.
Die Dauer der einzelnen Phasen hängt davon ab, ob das Knie (und der Kopf) des Spielers die aktuelle Phase gut verkraftet und wie oft er in der Woche Training hat. Ausgehend von einem zweimaligen Training pro Woche könnten 4 bis 6 Wochen für die Phase I und die Phase II angebracht erscheinen. Als grobe Richtschnur könnte mit ein bis zwei Wochen für jede Unterphase geplant werden. Die konkrete Dauer hängt letztlich von der Reaktion des Spielers auf die vorhergehende Belastung ab - hier verbietet sich ein schematisches Vorgehen.
Bei der Frage, wann konkret mit der nächsten Phase begonnen werden soll, kann der Trainer zwar eigene Eindrücke zur Bewegungsqualität und zur Entschlossenheit des Spielers bei der Zweikampfführung beisteuern. Entscheidend ist aber die körperliche Reaktion des Spielers im und nach dem Training. Diese kennt der Spieler selbst am besten, so dass er bzw. seine Eltern „Herr über den Eintritt in die nächste Phase“ sind. Sofern er selbst Zweifel hat, hilft die Rücksprache mit dem Arzt, Physio- und/oder Sporttherapeuten.
Die konkreten Phasen lassen sich am anschaulichsten der folgenden Tabelle entnehmen, die das Herzstück dieses Beitrags darstellt. Die sog. „Phase PLUS“ ist als Aufwärmprogramm dabei der Begleiter aller anderen Phasen und endet auch nach deren Abschluss nicht. Einzelheiten zu den jeweiligen (Unter-)Phasen sind auch im anhängenden E-Book noch ausführlicher erläutert.
IV. Belastungssteuerung („the best ability is availability“)
Sowohl während als auch nach der vollständigen Reintegration des Spielers in den Trainings- und Wettkampfbetrieb ist darauf zu achten, Überlastungen zu vermeiden. Eine übermäßige Ermüdung könnte nämlich wieder zu dem Mechanismus führen, der möglicherweise schon die Ausgangsverletzung zur Folge hatte. Ohne ausreichende Erholung akkumuliert die Müdigkeit im Körper, was zu einer Verlangsamung des Nervensystems führt. Die Signale des Gehirns an den Muskel werden dann langsamer übertragen. Normalerweise sendet es bei einer Drehbewegung ein Signal an das Knie, dass die umgebenden Muskeln kontrahieren und so Ober- und Unterschenkel in einer Position bleiben. In einem zu ermüdeten Körper mit einem langsamen Nervensystem ist dieses Signal in dem Moment, in dem die Drehbewegung anfängt, im schlechtesten Fall noch nicht angekommen. Die Drehbewegung wird dann ohne muskulären Schutz ausgeführt und wird zur großen Gefahr für das Kreuzband, das dann alleine für die Stabilität sorgen muss und Schaden nimmt[3].
Die im Kontext mit dem Profifußball oft und gerne genannte Belastungssteuerung lässt sich in der Praxis auch in einem Amateurverein gut umsetzen. Hierbei spielen insbesondere zwei Werte eine Rolle, für deren einfache (und genaue) Erhebung und Berechnung es entsprechende Softwareprogramme und Apps gibt:
Basiswert: rate of perceived exertion (RPE)[4]
Wichtig ist zunächst, die individuelle Belastung der Spieler zu messen. Denn wenn die Belastung eines Sportlers um mehr als 15% im Vergleich zur Vorwoche ansteigt, erhöht sich das Verletzungsrisiko um etwa 50%. Der Wert, mit dem sich die individuelle Belastung am einfachsten messen lässt, ist die wahrgenommene Belastung („ rate of perceived exertion“, abgekürzt RPE). Diese wird durch einen Wert auf einer Skala von 1 bis 10 (1: niedrigste Anstrengung; 10 höchste Anstrengung) von dem Spieler nach jeder sportlichen Betätigung subjektiv danach bestimmt, wie sehr er sich bei der sportlichen Einheit verausgabt hat.
Kennzahl auf Basis der RPE: die ACWR
Aus der RPE lässt sich auf einfache Weise ein wichtiger Indikator berechnen: die ACWR (acute:chronic work ratio)[5]. Sie gibt das Verhältnis von aktueller und langfristiger Belastung des Sportlers an. Die akute Trainingsbelastung eines Spielers entspricht der „Ermüdung“ des Spielers über den Zeitraum von 7 Tagen. Die chronische Arbeitsbelastung soll die „Fitness“ des Athleten wiedergeben und entspricht der durchschnittlichen akuten Belastung der letzten 28 Tage. Wenn sich beide Belastungswerte nicht in der richtigen Balance befinden, steigt das Verletzungsrisiko.
Anders ausgedrückt: Das Verhältnis zwischen kurzfristiger (1 Woche) und langfristiger (4 Wochen) Trainingsbelastung hat Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit von Überlastungsverletzungen: Athleten, die länger, schwerer oder intensiver trainieren als in den Wochen zuvor, haben ein höheres Risiko für kontaktlose Verletzungen als Athleten, die in der letzten Woche einen weniger hohen Trainingsbelastungsspitzenwert hatten.
Der errechnete ACWR-Wert ist jedoch nicht in einem absoluten Sinne zu verstehen. Verletzungen sind bei einem optimalen ACWR-Wert ebenso möglich, wie das Ausbleiben einer Verletzung bei einem kritischen ACWR-Wert. Verletzungen können damit nicht vorhergesagt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es bei einem Wert im roten Bereich zu einer Verletzung kommt, ist allerdings deutlich höher, so dass es sich um einen wichtigen, wenn auch nicht den einzigen Indikator handelt, mit dem das erhöhte Risiko von kontaktfreien Verletzungen ausgedrückt werden kann. Für eine angemessene Beurteilung des Verletzungsrisikos müssen dann noch weitere Faktoren mit einbezogen werden (z.B. Trainingshistorie, Verletzungshistorie, Leistungsniveau, Alter etc.).
Ein Spieler kann nach einer Verletzung wieder systematisch zurück in den Zweikampf geführt werden, indem er verschiedene Phasen durchläuft. In diesen aufeinander folgenden Phasen werden der körperliche Kontakt mit dem Gegner langsam und strukturiert gesteigert. Dabei, sowie im Anschluss daran, fördern ein strukturiertes Aufwärmprogramm, das auch Kräftigungs- und Stabilitätsübungen enthält, sowie ein (messbarer) Blick auf die Belastung des Sportlers die Reintegration des Sportlers in den Wettkampf und senken das Risiko einer Wiederverletzung.
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Über den Autor Carsten Klatt
Der Autor hat sich aufgrund familiärer Betroffenheit mit der Thematik dieses Beitrags auseinandergesetzt.
Er ist derzeit Sportlicher Leiter der C- und D-Jugend des SV 09 Hofheim sowie Co-Trainer der B-Juniorinnen des SC 1959 Dortelweil. Er besitzt die C-Lizenz und ist bereits seit mehreren Jahren als Trainer im Junioren- und Juniorinnenbereich sowie im Individualbereich tätig. Er dankt den Therapeuten und vielen Trainerkollegen, insbesondere Ioannis Tsabasopulos, dem Sportlichen Leiter des 1.FC-TSG Königstein, mit denen er sich im Rahmen der Erstellung dieses Beitrags ausgetauscht hat und die viele wertvolle Gedanken dazu beigetragen haben.
Quellen
[1] Vor der Wettkampfrückkehr steht aber die Rückkehr ins Mannschaftstraining.
[2] Vgl. Klingenberg, Return-to-Sport, 2019, S. 30
[3] Vgl. Raymond Verheijen, Wie einfach kann es sein, 2020, S. 101
[4] Vgl. zum Ganzen: https://www.sportsense.at/pages/sportsense-blog/rate-of-perceived-exertion-rpe-eine-einfache-und-effektive-methode-zur-belastungssteuerung-im-fu%C3%9Fball/
[5] Vgl. zum Ganzen: https://sportsense.at/pages/sportsense-blog/akute-vs-chronische-trainingsbelastung-acwr-k%C3%B6nnen-verletzungen-vorausgesagt-werden/